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Die Falle spiritueller Mindsets: Wenn toxische Scham uns treibt

Micha Madhava • 17. Februar 2025

„Zwischen Selbstoptimierung und Resignation: Wie spirituelle Ideale unser Nervensystem stressen können“


Spirituelle Konzepte als neue Maßstäbe 


Viele spirituelle Strömungen, Lehren oder Ideen bringen – oft ganz unbemerkt – eine Art von Dogma mit sich. Sie definieren, wie wir sein sollten, was wir fühlen oder denken sollten, welche Haltung „richtig“ ist. Ob es um Fülle-Bewusstsein, Erdung oder inneren Frieden geht – häufig schwingt eine Erwartung mit: Wer spirituell „richtig“ unterwegs ist, sollte bestimmte Mindsets verinnerlicht haben. 


Doch was passiert, wenn wir diese Ansprüche nicht erfüllen? Wenn wir trotz aller Übungen, Affirmationen und innerer Arbeit immer noch im Mangelbewusstsein, in Unsicherheit oder Unruhe sind? 


Wenn toxische Scham spirituelle Entwicklung blockiert 


Hier kommt ein zentraler Punkt ins Spiel: Wenn wir unbewusst von toxischer Scham geprägt sind, dann verstärken spirituelle Konzepte oft genau das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Statt uns zu ermächtigen, führen sie zu subtiler Selbstverurteilung: 


  • „Ich sollte doch längst im Vertrauen sein. Warum habe ich immer noch Angst?“
  • „Ich müsste doch schon viel weiter sein auf meinem Weg.“
  • „Andere schaffen es, in der Liebe zu bleiben. Warum ich nicht?“
  • „Ich sollte gelassener, achtsamer, ausgeglichener sein – aber warum spüre ich in mir das Gegenteil?“


Solche Gedanken entstehen oft aus alten Konditionierungen. Besonders, wenn unser Nervensystem durch frühere Erfahrungen von Unsicherheit oder Überforderung geprägt wurde, kann es schwer sein, sich auf neue innere Haltungen einzulassen. Dann helfen auch die besten Mindset-Techniken nicht – weil unser Körper in einem Zustand von Dysregulation ist und schlichtweg nicht auf Sicherheit und Vertrauen zugreifen kann. 


Zwei Reaktionsmuster des Nervensystems: Kampf oder Resignation 


Was oft übersehen wird: Wenn wir uns spirituellen Praktiken oder Methoden zur Regulation zuwenden – wie Meditation, Achtsamkeit oder Atemübungen – kann unser Nervensystem sehr unterschiedlich darauf reagieren. Besonders, wenn Scham im Hintergrund aktiv ist, zeigen sich häufig zwei Seiten der gleichen Medaille: 


1. Der Kampfmodus („Ich muss besser werden!“)

Ein Teil in uns kann Spiritualität in einen inneren Kampf verwandeln. Statt eine Praxis als Ressource zu erleben, setzen wir sie als Mittel ein, um uns selbst zu optimieren: 

  •    „Ich muss mehr meditieren!“
  •    „Ich sollte achtsamer sein!“
  •    „Ich darf keine negativen Gedanken haben!“
  •    „Ich muss es endlich richtig machen!“


Dieser Zustand ist oft sympathikoton – das Nervensystem ist übererregt, getrieben, in einem Modus des „Machens“. Statt echter Heilung entsteht Druck, weil ein unbewusster Anteil glaubt: *Ich bin noch nicht gut genug.* 


2. Die Resignation („Ich kann das nicht.“)

Auf der anderen Seite kann das Nervensystem in eine dorsale Starre fallen – in Resignation oder Überforderung: 

  •    „Ich habe keine Kraft, mich damit zu beschäftigen.“
  •    „Das ist zu anstrengend für mich.“ 
  •    „Ich werde es sowieso nie hinbekommen.“
  •    „Für mich funktioniert das nicht.“


Hier taucht die andere Seite der Schamkompensation auf: Der Rückzug, das Gefühl von Unfähigkeit, das sich wie ein energetisches Absinken anfühlt. Während die eine Seite kämpft und perfektionieren will, glaubt diese Seite, es sei sinnlos, sich überhaupt anzustrengen. 


"Königsbilder" – das Ideal, das wir nie erreichen 


Hinter beiden Reaktionen steckt oft ein *Königsbild* – eine innere Vorstellung davon, wie wir sein sollten: friedlich, weise, ausgeglichen, voller Vertrauen. Unbewusst messen wir uns an diesem Ideal und schneiden dabei scheinbar schlecht ab. 


  • „Ich bin noch nicht bewusst genug.“ 
  • „Ich müsste schon viel weiter sein.“* 
  • „Ich bin nicht so liebevoll und achtsam, wie ich es gerne wäre.“


Genau dieser Vergleich ist es, der uns in toxische Scham bringt. Denn Scham entsteht oft dort, wo wir das Gefühl haben, einer unausgesprochenen Regel oder einem Ideal nicht zu genügen. Doch wenn wir tiefer hinschauen, erkennen wir: Diese *Königsbilder* haben oft wenig mit unserer wahren Essenz zu tun. Sie sind ein Konzept – keine Realität. 


Freundschaft mit dem Nervensystem – ein neuer Weg zur Regulierung 


Was wäre, wenn wir all diese Bilder und Ideale liebevoll beiseitelegen würden? Wenn wir uns nicht mehr daran messen, was wir „eigentlich“ sein sollten, sondern uns mit Verlässlichkeit und Wohlwollen unserem eigenen Nervensystem zuwenden? Also dem was IST- im Hier und Jetzt. Und ist nicht das der Kern aller spirituellen Lehren?


Ein reguliertes Nervensystem ist der Schlüssel, um Sicherheit, Vertrauen und Verbundenheit nicht nur als Konzept zu verstehen, sondern wirklich zu fühlen. Und genau hier liegt die Einladung: Unser Nervensystem als Verbündeten zu sehen – nicht als Gegner, der „funktionieren“ muss. 


Das bedeutet: 


  • Statt uns an äußeren Konzepten zu orientieren, lauschen wir den Signalen unseres Körpers. 
  • Statt uns für unsere Emotionen zu verurteilen, erkennen wir, dass sie Ausdruck unserer aktuellen Regulationsfähigkeit sind. 
  • Statt gegen Angst oder Unsicherheit anzukämpfen, begegnen wir uns mit Selbstmitgefühl. 


Die Freundschaft mit dem eigenen Nervensystem ist ein entscheidender Schlüssel – weil sie uns hilft, uns nicht mehr an äußeren (spirituellen) Idealen zu orientieren, sondern in unsere eigene gelebte Erfahrung einzutauchen. 


Einladung zur Reflexion 


Vielleicht magst du in den kommenden Tagen bewusst darauf achten, wo du dich selbst mit einem Ideal vergleichst. Gibt es ein Königsbild, an dem du dich misst? Wie fühlt sich das in deinem Körper an? 


Und wenn du bemerkst, dass du entweder in den Kampfmodus („Ich muss besser sein!“) oder in Resignation („Ich kann das nicht.“) fällst – kannst du stattdessen einen Moment innehalten? Deinen Körper spüren? Deinem Nervensystem signalisieren: *Ich bin hier. Ich bin sicher.* 


Ich lade dich ein, damit zu experimentieren – mit der Haltung, dass du genau jetzt schon genug bist. 



Reflexionsfragen: Wie beeinflussen spirituelle Ideale dein Nervensystem?


  1. Gibt es spirituelle oder persönliche Entwicklungsziele, an denen du dich misst? 
  2. Wann hast du zuletzt das Gefühl gehabt, „nicht gut genug“ zu sein – und was war der Auslöser? 
  3. Nimmst du bei dir eher den Kampfmodus („Ich muss es besser machen!“) oder die Resignation („Ich schaffe das nicht.“) wahr? 
  4. Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du dich mit einem Ideal vergleichst? Gibt es Anspannung, Enge oder Müdigkeit? 
  5. Wie verändert sich dein inneres Erleben, wenn du dein Nervensystem als Verbündeten betrachtest, anstatt es „optimieren“ zu wollen? 
  6. Was wäre eine kleine, liebevolle Geste der Selbstfürsorge, die dir gerade jetzt helfen könnte? 
  7. Wie fühlt es sich an, den Gedanken zuzulassen: „Ich bin genau da, wo ich sein soll – mein Nervensystem kennt den nächsten Schritt.“



FAQ: Häufige Fragen zu spirituellen Idealen und dem Nervensystem


1. Warum fühle ich mich oft schlecht, obwohl ich spirituelle Praktiken anwende?** 

Das kann daran liegen, dass dein Nervensystem nicht in einem Zustand von Sicherheit und Regulation ist. Wenn wir versuchen, innere Arbeit aus einem Gefühl von „Ich muss besser sein“ heraus zu machen, kann unser System in Stress oder Überforderung geraten. Wirkliche Veränderung braucht nicht mehr Druck, sondern mehr Sicherheit. 


2. Wie erkenne ich, ob mein Nervensystem in den Kampfmodus oder in Resignation geht?** 

- Kampfmodus (*sympathische Aktivierung*): Du hast das Gefühl, mehr tun zu müssen, meditierst zwanghaft, versuchst zwanghaft „positiv zu denken“ oder hast Angst, nicht spirituell genug zu sein. 

- Resignation (*dorsale Starre*): Du hast das Gefühl, es nicht zu schaffen, spürst Müdigkeit oder Überforderung und verlierst das Vertrauen, dass Veränderung möglich ist. 


3. Wie kann ich mich von meinen inneren *Königsbildern* lösen? 

Erkenne zuerst, dass diese Bilder Ideale sind, keine Realität. Frage dich: *Dient mir dieses Bild, oder erzeugt es Druck?* Statt dich daran zu messen, kannst du dein Nervensystem fragen: Was brauche ich jetzt, um mich sicher und verbunden zu fühlen?


4. Wie kann ich mein Nervensystem als Verbündeten betrachten? 

Statt es als etwas zu sehen, das funktionieren oder optimiert werden muss, kannst du eine Beziehung zu ihm aufbauen. Beobachte, welche Zustände sich wie anfühlen, und finde heraus, welche kleinen Schritte dir in Momenten von Stress oder Überforderung helfen. 


5. Welche praktischen Schritte helfen mir, aus der Scham herauszukommen? 

- Werde dir bewusst, wenn du dich mit einem Ideal vergleichst. 

- Nimm wahr, wie dein Körper reagiert – ist da Druck oder Resignation? 

- Lenke deine Aufmerksamkeit sanft auf eine Ressource, die dich jetzt unterstützt (eine Berührung, eine Bewegung, ein ruhiger Atemzug). 

- Erinnere dich daran: *Dein Nervensystem braucht Zeit für Veränderung – und du bist bereits genug.* 



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