Viele spirituelle Strömungen, Lehren oder Ideen bringen – oft ganz unbemerkt – eine Art von Dogma mit sich. Sie definieren, wie wir sein sollten, was wir fühlen oder denken sollten, welche Haltung „richtig“ ist. Ob es um Fülle-Bewusstsein, Erdung oder inneren Frieden geht – häufig schwingt eine Erwartung mit: Wer spirituell „richtig“ unterwegs ist, sollte bestimmte Mindsets verinnerlicht haben.
Doch was passiert, wenn wir diese Ansprüche nicht erfüllen? Wenn wir trotz aller Übungen, Affirmationen und innerer Arbeit immer noch im Mangelbewusstsein, in Unsicherheit oder Unruhe sind?
Hier kommt ein zentraler Punkt ins Spiel: Wenn wir unbewusst von toxischer Scham geprägt sind, dann verstärken spirituelle Konzepte oft genau das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Statt uns zu ermächtigen, führen sie zu subtiler Selbstverurteilung:
Solche Gedanken entstehen oft aus alten Konditionierungen. Besonders, wenn unser Nervensystem durch frühere Erfahrungen von Unsicherheit oder Überforderung geprägt wurde, kann es schwer sein, sich auf neue innere Haltungen einzulassen. Dann helfen auch die besten Mindset-Techniken nicht – weil unser Körper in einem Zustand von Dysregulation ist und schlichtweg nicht auf Sicherheit und Vertrauen zugreifen kann.
Was oft übersehen wird: Wenn wir uns spirituellen Praktiken oder Methoden zur Regulation zuwenden – wie Meditation, Achtsamkeit oder Atemübungen – kann unser Nervensystem sehr unterschiedlich darauf reagieren. Besonders, wenn Scham im Hintergrund aktiv ist, zeigen sich häufig zwei Seiten der gleichen Medaille:
Ein Teil in uns kann Spiritualität in einen inneren Kampf verwandeln. Statt eine Praxis als Ressource zu erleben, setzen wir sie als Mittel ein, um uns selbst zu optimieren:
Dieser Zustand ist oft sympathikoton – das Nervensystem ist übererregt, getrieben, in einem Modus des „Machens“. Statt echter Heilung entsteht Druck, weil ein unbewusster Anteil glaubt: *Ich bin noch nicht gut genug.*
Auf der anderen Seite kann das Nervensystem in eine dorsale Starre fallen – in Resignation oder Überforderung:
Hier taucht die andere Seite der Schamkompensation auf: Der Rückzug, das Gefühl von Unfähigkeit, das sich wie ein energetisches Absinken anfühlt. Während die eine Seite kämpft und perfektionieren will, glaubt diese Seite, es sei sinnlos, sich überhaupt anzustrengen.
Hinter beiden Reaktionen steckt oft ein *Königsbild* – eine innere Vorstellung davon, wie wir sein sollten: friedlich, weise, ausgeglichen, voller Vertrauen. Unbewusst messen wir uns an diesem Ideal und schneiden dabei scheinbar schlecht ab.
Genau dieser Vergleich ist es, der uns in toxische Scham bringt. Denn Scham entsteht oft dort, wo wir das Gefühl haben, einer unausgesprochenen Regel oder einem Ideal nicht zu genügen. Doch wenn wir tiefer hinschauen, erkennen wir: Diese *Königsbilder* haben oft wenig mit unserer wahren Essenz zu tun. Sie sind ein Konzept – keine Realität.
Was wäre, wenn wir all diese Bilder und Ideale liebevoll beiseitelegen würden? Wenn wir uns nicht mehr daran messen, was wir „eigentlich“ sein sollten, sondern uns mit Verlässlichkeit und Wohlwollen unserem eigenen Nervensystem zuwenden? Also dem was IST- im Hier und Jetzt. Und ist nicht das der Kern aller spirituellen Lehren?
Ein reguliertes Nervensystem ist der Schlüssel, um Sicherheit, Vertrauen und Verbundenheit nicht nur als Konzept zu verstehen, sondern wirklich zu fühlen. Und genau hier liegt die Einladung: Unser Nervensystem als Verbündeten zu sehen – nicht als Gegner, der „funktionieren“ muss.
Das bedeutet:
Die Freundschaft mit dem eigenen Nervensystem ist ein entscheidender Schlüssel – weil sie uns hilft, uns nicht mehr an äußeren (spirituellen) Idealen zu orientieren, sondern in unsere eigene gelebte Erfahrung einzutauchen.
Vielleicht magst du in den kommenden Tagen bewusst darauf achten, wo du dich selbst mit einem Ideal vergleichst. Gibt es ein Königsbild, an dem du dich misst? Wie fühlt sich das in deinem Körper an?
Und wenn du bemerkst, dass du entweder in den Kampfmodus („Ich muss besser sein!“) oder in Resignation („Ich kann das nicht.“) fällst – kannst du stattdessen einen Moment innehalten? Deinen Körper spüren? Deinem Nervensystem signalisieren: *Ich bin hier. Ich bin sicher.*
Ich lade dich ein, damit zu experimentieren – mit der Haltung, dass du genau jetzt schon genug bist.
Das kann daran liegen, dass dein Nervensystem nicht in einem Zustand von Sicherheit und Regulation ist. Wenn wir versuchen, innere Arbeit aus einem Gefühl von „Ich muss besser sein“ heraus zu machen, kann unser System in Stress oder Überforderung geraten. Wirkliche Veränderung braucht nicht mehr Druck, sondern mehr Sicherheit.
- Kampfmodus (*sympathische Aktivierung*): Du hast das Gefühl, mehr tun zu müssen, meditierst zwanghaft, versuchst zwanghaft „positiv zu denken“ oder hast Angst, nicht spirituell genug zu sein.
- Resignation (*dorsale Starre*): Du hast das Gefühl, es nicht zu schaffen, spürst Müdigkeit oder Überforderung und verlierst das Vertrauen, dass Veränderung möglich ist.
Erkenne zuerst, dass diese Bilder Ideale sind, keine Realität. Frage dich: *Dient mir dieses Bild, oder erzeugt es Druck?* Statt dich daran zu messen, kannst du dein Nervensystem fragen: Was brauche ich jetzt, um mich sicher und verbunden zu fühlen?
Statt es als etwas zu sehen, das funktionieren oder optimiert werden muss, kannst du eine Beziehung zu ihm aufbauen. Beobachte, welche Zustände sich wie anfühlen, und finde heraus, welche kleinen Schritte dir in Momenten von Stress oder Überforderung helfen.
- Werde dir bewusst, wenn du dich mit einem Ideal vergleichst.
- Nimm wahr, wie dein Körper reagiert – ist da Druck oder Resignation?
- Lenke deine Aufmerksamkeit sanft auf eine Ressource, die dich jetzt unterstützt (eine Berührung, eine Bewegung, ein ruhiger Atemzug).
- Erinnere dich daran: *Dein Nervensystem braucht Zeit für Veränderung – und du bist bereits genug.*
Verletzlichkeit ist ein zentraler Bestandteil menschlicher Erfahrungen. Sie ermöglicht uns den Zugang zu intensiven Momenten und wird somit zur kostbarsten Ressource unseres Seins. Im folgenden möchte ich einen Einblick in die Kraft der Verletzlichkeit geben und die Bedeutung eines authentischen Ausdrucks beleuchten.
Als Kinder sind wir voller Enthusiasmus und Spontaneität in diese Welt geboren worden. Doch im Laufe der Jahre verlieren wir oft den Bezug zu diesem wertvollen Geschenk. Misstrauen gegenüber dem Leben und anderen Menschen schleicht sich ein, und wir lernen, unsere Verletzlichkeit zu verbergen.
Um uns mit anderen Menschen verbinden zu können, ist es unerlässlich, dass wir uns sicher fühlen. Dieser Schritt kann nicht übersprungen werden, wenn wir uns wieder in die Verletzlichkeit wagen möchten. Gemeinsam können wir erforschen, wie du wieder sicheren Halt in dir selbst finden kannst.
Für viele Menschen ist der Weg zur Wiederentdeckung der Verletzlichkeit mit traumatischen Erfahrungen verbunden. Eine traumasensible Prozessbegleitung kann dabei helfen, diese Erfahrungen anzunehmen und zu heilen. Durch eine einfühlsame Begleitung kannst du Schritt für Schritt lernen, deine Verletzlichkeit zu akzeptieren und als Quelle deiner Stärke zu nutzen.
Ein authentischer Ausdruck ermöglicht es dir, deine ganz individuelle und einzigartige Erfahrung von Intensität mit anderen zu teilen. Indem du dich verletzlich zeigst und deine wahren Gefühle offenbarst, schaffst du eine Verbindung zu anderen Menschen. Diese Offenheit kann dir die Freude und Fülle bringen, nach der du suchst.
Verletzlichkeit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Ausdruck von Mut und Echtheit. Indem wir uns unserer Verletzlichkeit bewusst werden und sie zulassen, eröffnen sich uns neue Möglichkeiten der Verbindung und des Wachstums. Lass uns gemeinsam den Wert der Verletzlichkeit erkunden und den Mut finden, uns authentisch auszudrücken.
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